Die Andere Welt
Kapitel 1: Von Kugeln und Bäuchen
„Wo bleibt denn der verflixte Junge? Es ist bereits fünf
Minuten nach Mitternacht. Er hätte potzblitzsakramentefixhalleluja
schon lange hier sein sollen“, knurrt Bauch. „Und er
hatte noch versprochen, auf alle Fälle pünktlich zu sein.
Früher, auf Der Anderen Seite, hätte ich alles gegeben,
pünktlich zu sein. Ich würde auf der Stelle tot umfallen,
wenn ich jemals eine Minute zu spät gewesen wäre!“
„
Auf der Stelle tot umfallen, das ist gut“, lacht Valentin laut
und schlägt aus purem Vergnügen so fest auf sein Knie,
dass es einfach abfällt. „Oh nein, nicht schon wieder!
Das ist nun bereits das dritte Mal diese Woche. Verdammt lästig.
Zum Glück bekomme ich das Ganze wieder hin. Hopp! Und wir reden
nicht mehr darüber.“ Er pflanzt den Unterschenkel wieder
in den Oberschenkel, rüttelt grinsend ein wenig an der Kniescheibe
und knack, alles springt wieder ins Glied. „Jesus, Maria und
Josef! Muss das denn nun wirklich sein mit dem Knacken?“, würgt
Bauch hervor. „Du weißt, dass ich hierauf empfindlich
reagiere. Mein Magen dreht sich um, bei diesem Knacken. Kannst du
nicht mal einen kleinen Augenblick verschwinden, um deinen Leib wieder
zusammenzuflicken?“
Valentin schluckt sein Lachen hinunter und fängt konzentriert
an, einen Knoten in seinen Finger zu drehen.
Bauch dreht stöhnend seine 182 kg zu drei Vierteln um, weil
er von weitem Hazel ankommen hört, der an seinen unzertrennlichen
Freund, die schwarze Kugel, festgekettet ist.
Hazel hat im Laufe der Zeit gelernt, wie er sich am besten mit seinem
bleischweren Gefährten zu bewegen hat. Er zieht mit dem rechten
Bein, an dem Kugel hängt, kräftig an der Kette, so dass
Kugel nach vorne rollt und er selber einen halben Meter nach vorne
fliegt.
Toink, zwuuf! Toink, zwuuf! Toink, zwuuf!
„
n’Abend allerseits“ begrüßt Hazel seine Kameraden
mit heraushängender Zunge. Der Schweiß tropft den Hals
entlang in seinen grün-weiß gestreiften Anzug und läuft
aus den Hosenbeinen wieder heraus, direkt in seine Schuhe. Die sieben
Kugellöcher in seiner Jacke sind mit der Zeit so groß geworden,
dass von der Jacke kaum noch etwas übrig bleibt. „Unser
Freundchen noch nicht da?“, fragt er mit hoher Stimme, während
er ein wenig Schnodder mit seinem Unterarm abwischt, ein paar Fasern
aus der Unterseite seiner Jacke zieht und ungeschickt versucht, sich
hinzusetzen. Versucht ..., wobei Kugel, weil er sich zu schnell gedreht
hat, mit seinem ganzen Gewicht über die äußerst empfindliche
Zehe von Valentin rollt.
„
Jaauuw! Whaa! Hoho..., auwe, auwe!“, jammert Valentin mit Tränen
in den Augen. „Du blödes Stück eines Gefangenen!
Kannst du nicht gucken, wo du dein miserables Anhängsel herumschwingst!
Ich habe gerade erst mein Knie zum dritten Mal in dieser Woche kaputtgeschlagen
und nun dies. Und du weißt, wie empfindlich ich an meinen Zehen
bin!“ Stöhnend und wimmernd geht Valentin in die Knie
und versucht verzweifelt, seine Zehen wieder einzusammeln.
Bauch schaut Hazel vorwurfsvoll an und öffnet gerade den Mund,
um ihm eine Standpauke zu halten, als Fußstapfen zu hören
sind. „Ist er endlich da?“
Nein.
Es sind zögernde Fußstapfen von glänzenden schwarzen
Lederschuhen. Oberhalb davon zeigt sich ein eleganter, aber völlig
abgenutzter Maßanzug mit teuren Manschettenknöpfen und
gestärktem Kragen. Und darüber ..... nichts.
„
Meine Herren, seien sie gegrüßt!, klingt es tief aus dem
Bauch Des Chefs. Ohne Kopf ist es nämlich schwer zu sprechen,
und Der Chef hat im Laufe der Zeit Bauchsprechen gelernt. Ein Öhrchen
hat, oh Wunder, die Enthauptung überlebt und baumelt an einem
Stückchen Sehne über dem Kragen. „Ich habe euch schon
von Weitem schimpfen gehört! Ich dachte: lass mich mal nachschauen,
was mein Volk so macht! Nun, wie is' es denn so mit euch gestellt?“,
fragt Der Chef freundlich, während er eine stolze Haltung einnimmt:
Füße ein wenig auseinander, rechte Hand am Revers, linke
mit einem weißen Taschentuch hinter dem Rücken.
Bauch, Hazel und Valentin schauen sich an, grinsen und entscheiden
mit einem kleinen Kopfnicken, auch diesmal das Spielchen mitzuspielen.
Irgendwann muss Der Chef mal Bürgermeister, Feldmarschall oder
sogar Kaiser gewesen sein. Auf alle Fälle jemand mit unglaublich
viel Macht.
Leider weiß er das selbst nicht mehr, weil er mit seinem Kopf
natürlich auch sein Hirn verloren hat. Er weiß nicht mehr,
wer er war oder was er früher getan hat. Er hat keine Vergangenheit.
Zum Glück ist er völlig harmlos und ungefährlich,
deshalb lassen sie ihn gerne in dem Glauben, dass er der Boss ist.
„
Ach, Der Chef! Uns geht’s gut. Danke“, antwortet Bauch
mit einem höflichen Kopfnicken, was Der Chef natürlich
nicht sehen kann. „Was für eine Freude, dass Sie sich
unter das niedere Volk begeben. Meine Kameraden und ich warten auf
unseren kleinen Freund. Erinnern Sie sich noch? Er war gestern noch
hier.“
„
Aber natürlich weiß ich das noch!“, antwortet Der
Chef ein wenig pikiert. „Meinen Sie, dass ich so schnell vergesse?“
Der Hintern vom Chef macht sich bereit, sich direkt in eine kleine
Pfütze zu setzen. Valentin ohne Zehe und Hazel mit der Kugel
sehen dies vor ihren Augen geschehen, kommen aber zu spät, um
die Katastrophe zu verhindern. Ganz ruhig schwenkt Der Chef den Schwalbenschwanz
seines Fracks nach hinten und platziert seinen Hintern genau in der
Pfütze. Es dauert einige Sekunden, bis das Wasser seine Pobacken
erreicht und eine warme Glut in seiner Hose verbreitet.
Atemlos warten die drei Kumpanen, bis er fluchend hochspringt, aber
es passiert nichts dergleichen. Im Gegenteil, der Hintern bewegt
sich gemütlich hin und her und ein kleiner genüsslicher
Seufzer verlässt den Bauch. Die drei schauen sich verdutzt an
und drehen wie „ein Mann“ den Kopf als sie von Weitem
die Stimme von Karl dem Glückspilz Junior hören.
Gejagt von einem Rudel Straßenhunde mit besonders schlechtem
Charakter, kommt der laut quiekend wie ein Ferkel auf die vier zugelaufen.
Die Hunde greifen ihn an und beißen in seine Waden. Die herausgerissenen
Fleischstückchen lassen sie wohlweißlich auf den Boden
fallen. Sie mögen noch so einen Hunger haben, dieses Fleisch
rühren sie auf keinen Fall an. Mit einem großen Sprung
schwenkt Karl sich hinter Bauch, umklammert nur ein Stückchen
seines gewaltigem Körpers und bleibt - zitternd wie eine Jungfer
- hinter Bauch hocken.
Die Biester haben Angst vor Bauch, bleiben einen kurzen Moment in
sicherem Abstand knurrend stehen, ziehen kurze Zeit später aber
wieder ab.
„
Danke schön, Bauch, danke schön. Wenn ich jemals etwas
für dich tun kann ...“, dankt Karl seinem Retter, während
er klapprig zitternd wieder hochkommt.
Vom Rennen ist sein Mund staubtrocken, seine krummen Beine zittern.
Genau wie sein Vater, Karl der Erste, hat er immer Lust auf ein Gläschen.
Oder zwei. Oder drei.
„
Nun, einen herrlichen kleinen Cognac würde ich nicht verschmähen.
In einem echten Kristallglas, perfekt eingeschenkt. Du weißt
schon, dass der gute Tropfen, wenn du das Glas auf die Seite legst,
gerade so bis an die Kante reicht. Und dann mit einem Schluck diese
Wohltat in sich hineinfließen lassen.“ Laut sinnierend über
seine große Passion, stolpert Karl über Kugel, über
ein paar von Valentins Zehen und über die geputzten Lederschuhe
vom Chef. Stöhnend und fluchend setzt er sich auf einen ausgeschliffenen,
seiner Größe perfekt angepassten riesigen Kieselstein.
Eine Taube fliegt über ihn hinweg und lässt bewusst einen
kleinen Klecks Scheiße auf seinen Kopf fallen. Mit seinen Gedanken
noch bei dem verbotenen Cognac-Genuss, reibt er den Vogeldreck lässig
noch etwas tiefer ein. Tiere mögen Karl nicht, überhaupt
nicht. Sein Körpergeruch verjagt sogar Ratten, obwohl diese
doch einiges gewohnt sind.
Bauch, Valentin und Karl schauen sich gegenseitig sprachlos an. Was
werden sie heute Nacht noch alles erleben?
„
Sag mal, wo ist eigentlich unser kleiner Freund geblieben?“,
fragt Karl „Ich dachte, er würde sich um Mitternacht hier
einfinden.“ Inzwischen war es durch all' diese Umstände
bereits halb eins geworden.
„
Es ist eigenartig“, meint Bauch, und überhaupt nicht seine
Art. Soll ich vielleicht ein kleines Wölkchen auf Erkundungsfahrt
schicken?“
„
Ja, tu das, Bauch, dann geh‘ ich inzwischen auf die Suche nach
meinem großen Zeh“, antwortet Valentin, der auf Händen
und Füßen zwischen den Zargen herumkriecht.
Bauch holt tief Luft, bläst mit runden Wangen eine durchsichtige
Atemwolke heraus, fängt sie mit seinen Handflächen auf
und flüstert ihr eine kleine Botschaft zu. Vorsichtig lässt
er das Wölkchen wieder frei, und es entschwebt in Richtung Der
Anderen Seite.
Kapitel 2: Die Andere Seite
Auf Der Anderen Seite brennt noch eine kleine Lampe, die von Remi.
Der hat sich so in sein Lieblingsbuch vertieft, dass er die Zeit
ganz und gar aus den Augen verloren hat.
1997 FX11 durch Dr. Prof. Doktorandus Luna: Franziskus, Geronimus,
Alfredus, Norbertus, Malpertus, Bonifikandus, Xanzerius, Theodosius,
Sanseverianus Luna. Mit so einem Namen kannst du nichts anderes als
ein Doktor Professor Doktorandus werden, findet Remi.
Der FX11 ist ein Meteorit, der schon mal an der Erde vorbeigerauscht
ist und für das Jahr 2028 erneut erwartet wird. Dann wird er
in 960.000 km Entfernung vorbeisausen - das ist der zweimalige Abstand
vom Mond zur Erde.
Das klingt beruhigend, aber Luna denkt ganz anders darüber.
Seiner Meinung nach ist das Ende der Welt nahe herbeigekommen. Die
Dinosaurier haben den berühmten Einschlag vor 65 Millionen Jahren
auch nicht überlebt. Für uns ist die Gefahr 1 zu 10 Millionen,
dass wir innerhalb der nächsten 40 Jahre durch einen solchen
Meteoriten am Ende sind. Der braucht nur mal einen Kilometer Durchmesser
zu haben, um so eine Staubwolke zu verursachen, dass wir bei mangelndem
Sonnenlicht alle über den Jordan gehen!
Remi ist an der vorletzten Seite angelangt. Die Stunde der Wahrheit
bricht an! Er muss einfach wissen, wie das Ende aussieht.
Plötzlich fühlt er einen heißen Windstoß im
Nacken und erschreckt sich gewaltig. Die kleine Wolke kriecht in
sein linkes Ohr und fliegt auf der anderen Seite seines Kopfes leer
heraus. Mit roten Augen vom konzentrierten Lesen schaut Remi auf
seinen Sputnikwecker und fällt vor lauter Schrecken aus dem
Bett.
„
Jesus, bereits halb eins! Bauch wird wieder böse sein. Er kann’s
absolut nicht haben, wenn ich zu spät bin!“, sagt er leise
zu sich selbst. Schnell zieht er seine Schuhe unterm Bett hervor,
schaut vorsichtig ins Schlafzimmer seiner Mutter, um zu kontrollieren,
ob sie wohl schläft, und klettert dann aus dem Fenster.
Eine paar mutige Sterne trotzen dicken Wolkenformationen. Der Mond
liegt auf der Seite und schläft. Remi passt auf, wohin er seine
Füße setzt, um nicht auf abgebrochene Äste zu treten.
Der Boden ist mit einer glatten, nassen Blätterschicht bedeckt. „Vorsicht!“ Er
mag nicht daran denken, dass seine Mutter wach werden könnte.
Er kann ihr noch nicht die Wahrheit erzählen. Jetzt noch nicht.
Ü
ber die Jahre hinweg haben verschiedene Moossorten den Boden bedeckt
und auch die Mauer erklommen. Wenn es - wie an diesem Tag - zuerst
geregnet und dann gefroren hat, ist der Boden glatt wie eine Eispiste.
Es ist der kälteste September seit langem. Es liegt sogar eine
dünne Schneeschicht! Remi wartet bis die Sterne ein wenig mehr
Licht geben, spuckt flink in die Hände und ergreift kräftig
den untersten Ast der 100-jährigen Eiche. Dieser fühlt
sich fies und glitschig an, wie tausend Schnecken nebeneinander.
Mühsam arbeitet sich Remi von Ast zu Ast nach oben.
Zwei Eichhörnchen stecken neugierig ihren Kopf nach draußen.
Beinahe in der Baumspitze angelangt, lässt Remi sich auf seinem
Bauch über einen dicken Ast gleiten und springt auf die obere
Leiste der Mauer. Er balanciert kurz auf den schmalen, bröckeligen
Backsteinen, geht in die Knie und verschwindet in Der Anderen Welt.
Vor ein paar Tagen hätte Remis Mutter das große Geheimnis
beinahe entdeckt. Es war so ein traurig-nasser Herbsttag, der sich
nicht anders als auf ein schweres Gewitter hin hätte entwickeln
können. Die Lichter hatten bereits seit Mittag gebrannt, und
das Licht in Remis Schlafzimmer brannte noch immer, als seine Mutter
zu Bett ging. Nun, das passiert wohl öfter, wenn er in seine
Raumfahrtlektüre vertieft ist.
„
Schlaf gut, mein Junge. Ich gehe jetzt schlafen. Versprichst du mir,
das Licht vor Mitternacht auszuschalten? Morgen musst du um 7.00
Uhr zur Schule raus, vergiss es nicht! Und schließ dein Fenster
gut zu bei diesem Gewitter“, sagte sie an der geschlossenen
Tür seines Schlafzimmers.
„
O.k., Mutter! Ich lese noch dieses Kapitel zu Ende und krieche dann
auch unter die Decke. Schlaf gut“, antwortete er gedämpft.
Einen Augenblick war sie geneigt, die Tür zu öffnen, um
ihm einen Gutenachtkuss zu geben, aber das fand er seit kurzer Zeit
nicht mehr ganz so lustig. Also ließ sie es bleiben. Sie schloss
auch ihre Schlafkammertür zu, nahm extra eine halbe Schlaftablette,
um bei dem starken Gewitter schlafen zu können und rutschte
bald tief ins Traumland.
Am nächsten Morgen wusste sie nicht, wie ihr geschah. Die kleinen
gelben Pünktchen in Remis Augen flackerten wie Gold, als er
sie durch seine widerspenstigen Locken lachend anschaute. Er neckte
sie wegen ihrer Antifaltencreme, die noch wie eine dicke Schicht
unter ihren Augen saß und verließ pfeifend das Haus Richtung
Schule. So was hatte sie noch nie erlebt!
Neugierig ging sie nach oben in sein Schlafzimmer. Auf dem blauen
Teppich befanden sich deutliche Erdspuren. Eine wilde Katze?
Es lag eine halbe Bibliothek auf seinem Bett verteilt, und das Fenster
stand einen kleinen Spalt auf.
„
Wie eigenartig. Draußen friert es beinahe. Und dann das schrecklich
kalte Wetter der letzten Tage ... Schnee im September. Nanu! Er wird
das Fenster doch wohl nicht die ganze Nacht offen gelassen haben!
Und all das Getue über Raumschiffe. Bald glaubt er auch noch
echt daran“, murmelte sie, während sie aus dem Fenster
in Richtung Friedhof schaute.
Im Garten lagen einige vom Unwetter abgerissene Zweige und Äste.
Sonst sah alles friedlich aus.
Wenn sie wüsste ...
Die nächste Nacht waren Remis Mutter leider die Schlaftabletten
ausgegangen. Sie konnte dann auch keinen Schlaf finden und hörte
etwas im Garten, so, als würde jemand herumlaufen.
Eigentlich unmöglich, weil der Garten an drei Seiten von einer
Mauer umgeben ist. Links und rechts haben sie Nachbarn. Die an der
rechten Seite sind nette Leute, die nachts sicher nicht im Garten
herumrennen; die von links sind zwar ein anderes Kaliber, aber nachts
draußen herumlaufen, nee, das ist auch nicht ihr Stil, und
hinter der hinteren Mauer liegt der Friedhof.
Mit angehaltenem Atem spähte sie durch die Gardine. Ihr warmer
Atem hinterließ ein kleines Muster auf der kalten Fensterscheibe.
Sie sah eine Silhouette, die sich mit einem gekonnten Schwung auf
die Friedhofsmauer fallen ließ, aber ohne ihre Brille konnte
sie dies nicht allzu gut sehen.
„
Ach, es wird wohl eine Katze gewesen sein. All' die Filme, die man
heutzutage im Fernsehen sieht, tragen auch dazu bei. Viel zu viel
Fantasie“, stöhnte sie schläfrig.
Sie kroch wieder ins Bett, wo sie noch einige Stunden lang wach lag.
Als sie dann endlich in den frühen Morgenstunden eingeschlafen
war, träumte sie von pechschwarzen, menschengroßen Katzen,
die in ihrem Gewächshaus wohnten, und von unsichtbaren Türen
in ihren Gartenmauern.
Am nächsten Morgen lag wieder Erde auf Remis Teppich. Nun wollte
sie es wissen.
„
Remi", platzte sie mit der Tür ins Haus, „wie kommt
es, dass deine Schuhe voller Erde sind? Und deine neue Jacke ist
ganz nass. Stellst du nachts Dinge an, die ich wissen müsste?
Du weißt doch, dass du mir alles erzählen kannst, Liebling
...“
Remi ließ seine Tasse mit warmer Milch beinahe fallen und schaute
schnell auf die Tischdecke, um seinen Schrecken zu verbergen.
„
Oh, oh. Sie vermutet etwas. Verdammt noch mal. Ich hätte es
wissen müssen! Blöd! Blöd! Blödes Huhn, das ich
doch bin!, verfluchte er sich selbst. Er nahm noch einen Schluck
Milch, um etwas Zeit zu gewinnen. Nur, seine Mutter war nicht von
gestern. Wie sollte er sich aus dieser Situation retten?
„
Nun, Mutter, es ist so, dass ... ja, euh, wie soll ich es sagen ...,
der Lehrer in Naturwissenschaft, du weißt schon, genannt Herr
Botanique, der vor dem .....“. Zum ersten Mal in seinem Leben
kam Remi nicht aus dem Stottern heraus. „Er sagte also ....,
Herbarium, genau, das sagte er!“, beendete Remi seine unverständliche
Erklärung und stieß einen Seufzer aus.
Aber seine Mutter schaute ihn fragend an und hatte auf alle Fälle
nichts verstanden. Sie sah zwar wieder besonders lustig aus, so mit
der Antifaltencreme unter den Augen, aber diese Augen standen nicht
gerade auf „Lustig“. Also überlegte er schnell weiter.
„
Ein Herbarium. Das ist unsere nächste Aufgabe für Biologie.
So eine Sammlung getrockneter Pflanzen, und die müssen wir dann
einkleben und benennen. Es gibt dafür 20 Punkte bei der Prüfung“,
erfand er gerade, weil seine Mutter für gute Noten ziemlich
empfänglich war. Er schaute sie hoffnungsvoll an, stellte aber
fest, dass sie sich noch nicht geschlagen gab.
„Ein Herbarium also, hmm, hmm ...“, überlegte seine
Mutter laut. „Okay, aber wäre es denn nicht etwas einfacher,
wenn du die Pflanzen sammeln würdest, bevor es dunkel wird?
Dann siehst du wenigstens, was du da pflückst.“
Das saß. Remi schaute wieder auf die Tischdecke, als wäre
dort die richtige Antwort zu finden, was auch tatsächlich so
war. Die Götter waren ihm heute wohlgesonnen.
„
Das würdest du auf den ersten Blick denken, nicht wahr?“,
räusperte er sich und sprach überzeugt weiter: „Manche
dieser Pflanzen musst du nachts pflücken, um das Aroma zu erhalten.
Und nachts haben die Pflanzen mehr Wasser, so dass man sie farbenreicher
trocknen lassen kann“. Er glaubte beinahe selbst, was er da
erzählte. Seine Mutter anscheinend auch, weil ihre Augenbraue
etwas herabsackte - ein Zeichen, dass sie nicht mehr so misstrauisch
war.
Aber sie hatte den absoluten Tiefschlag bis zuletzt aufbewahrt.
„
Okay, mein Junge, ich glaub’s. Darf ich dann mal eben deine
Sammlung von heute Nacht sehen?“, fragte sie gespielt freundlich.
Sie hatte inzwischen ihre Arme vor der Brust verschränkt und
trommelte ungeduldig mit ihren langen Fingernägeln auf den Ärmeln
ihrer Strickjacke.
„
Kling!, peng!“, da ging die Tasse mit Milch zu Boden. Das war
der Tiefschlag. Verdutzt schaute Remi noch einmal auf die Tischdecke,
aber von dort war diesmal keine Hilfe mehr zu erwarten. Schnell nahm
er ein Tuch, um die Milch aufzuwischen und dachte dabei rasend schnell
nach, welche Ausrede er noch gebrauchen könnte.
„
Gerne, Mutter!, antwortete er, während er die tausend Splitter
der runtergefallenen Milchtasse zusammenfegte. „Aber es gibt
nur ein Problem. Alles liegt zum Trocknen in einem alten Telefonbuch
im Keller. Und dort muss es eine Woche lang in absoluter Dunkelheit
liegen bleiben, sonst misslingt mein Projekt ... Die Säfte und
Aromen, du weißt schon. Aber ich verspreche dir, dass du die
Erste bist, die mein Herbarium zu sehen bekommt!“
Er schnappte seine Schultasche und lief hastig zur Tür.
„
Ich muss nun wirklich gehen, Mutter. Du weißt, wie der Mathelehrer
ist, wenn wir zu spät kommen. Bis heute Abend!“ Remi verlies
kichernd und stolz auf sich selbst das Haus und ging in Richtung
Schule. Er wusste nämlich, dass seine Mutter Todesängste
vor Spinnen hatte und niemals auf eigene Faust den Keller betreten
würde, weil es dort eine Menge davon gab.
Und er hatte recht. Er hatte einstweilen seine Haut gerettet. Sein
großes Geheimnis hatte er bewahren können. Seine Freunde
aus Der Anderen Welt hatte er von neugierigen Müttern fernhalten
können. Aber wie lange würde er das noch durchhalten?
Der zwölfjährige Remi ist von Sternen und Raumschiffen
fasziniert. Sein Leben verändert sich, als er eines Tages das
Magische Manuskript des bereits vor einem halben Jahrhundert verstorbenen
Astronomen Alfa Scimmia in die Hände bekommt.
Während er tagsüber normal zur Schule geht, erlebt er nachts
fantastische Abenteuer mit fünf Lebenden Toten: einem Ex-Seeräuber,
einem superromantischen Troubadour, einem Körper ohne Kopf und
deshalb auch ohne Hirn, einem Gefangenen und einer eleganten Kanalratte.
Sie lieben es, zu feiern und zu trinken, erzählen liederliche
Lebensgeschichten und liegen sich ständig in den Haaren. Remi
hält sich nächtelang in Der Anderen Welt auf.
Sabine De Vos debütierte 1998 mit dem Bündel Kurzgeschichten
Godin van de wieg.
Die Presse schreibt:
„Dass Sabine De Vos schreiben kann, beweist sie in Godin van
de wieg, einem lustigen Kinderbuch (...), einer mitreißenden
und exotischen Mischung harter Wirklichkeit und traumhafter Fiktion.
- Humo
„Ihr Debüt als Jugendschriftstellerin zeugt auf Anhieb
von ihrem großen Talent“
- Standaard der Letteren
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